In ein volles Gefäß kann man nichts füllen

 

Eines Tages kam eine Schülerin zum Meister. Sie hatte schon so viel von dem weisen Mann gehört, dass sie unbedingt bei ihm studieren wollte. Sie hatte alle Angelegenheiten geregelt, ihr Bündel geschnürt und war den Berg hinaufgekommen, was sie zwei Tage Fußmarsch gekostet hatte.

 

Als die junge Frau beim Meister ankam, saß der im Lotussitz auf dem Boden und trank Tee. Sie begrüßte ihn überschwänglich und erzählte ihm, was sie schon alles gelernt hatte. Dann bat sie ihn, bei ihm weiterlernen zu dürfen.

 

Der Meister lächelte freundlich und sagte: "Komm in einem Monat wieder".

 

Von dieser Antwort verwirrt, ging die junge Frau zurück ins Tal. Sie diskutierte mit Freunden und Bekannten darüber, warum der Meister sie wohl zurückgeschickt hatte.

 

Einen Monat später, erklomm sie den Berg erneut und kam zum Meister, der wieder Tee trinkend am Boden saß.

 

Diesmal erzählte die Schülerin von all den Hypothesen und Vermutungen, die sie und ihre Freunde darüber hatten, warum er sie wohl fortgeschickt hatte. Und wieder bat sie ihn, bei ihm lernen zu dürfen.

 

Der Meister lächelte sie freundlich an und sagte: "Komm in einem Monat wieder".

 

Dieses Spiel wiederholte sich einige Male. Es war also nach vielen vergeblichen Versuchen, dass sich die junge Frau erneut aufmachte, um zu dem Meister zu gehen. Als sie diesmal beim Meister ankam und ihn wieder Tee trinkend vorfand, setzte sie sich ihm gegenüber, lächelte und sagte nichts. Nach einer Weile ging der Meister in seine Behausung und kam mit einer Tasse zurück. Er schenkte ihr Tee ein und sagte dabei: "Jetzt kannst du hier bleiben, damit ich dich lehren kann. In ein volles Gefäß kann ich nichts füllen."

 

Verfasser unbekannt

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    David (Sonntag, 01 Juli 2018 22:19)

    Liebe Margit,
    das ist eine wunderschöne und sehr lehrreiche Geschichte, die mich auch sehr berührt. Ich bin ja auch immer auf der Suche, etwas neues zu lernen. Da bin ich durchaus auch mit der lerneifrigen Schülerin zu vergleichen.

    Zunächst war ich auch von der Antwort des Meisters überrascht, denn die Schülerin wollte sich bei dem Meister ja weiterbilden, doch er schickte sie wieder weg.

    Sie stellte viele Vermutungen an und grübelte, warum sie der Meister weggeschickt habe. Nach einem Monat besuchte sie den Meister wieder und teilte ihm ihre Vermutungen und Hypothesen mit. Doch wieder un wieder wurde sie weg geschickt.

    Als sie dann wieder zum Meister kam und dieses Mal nichts sagte, war er bereit, Ihr Lehrmeister zu sein.

    Und was darf ich daraus lernen? Solange ich mit meinen alten Glaubenssätzen und den alten Verhaltensweisen vollgestopft bin, kann und werde ich nichts Neues aufnehmen, denn es ist kein Platz dafür in meinem Seelenhaus.

    Erst wenn ich den alten Seelenmüll und meine Verhaltensweisen, die nicht mehr zu mir passen, entsorgt habe, bin ich bereit, etwas Neues zu lernen.

    Da hatte der Meister vollkommen recht, denn in ein volles Gefäß passt nichts mehr hineinein und ich kann nichts Neues mehr aufnehmen. Erst wenn ich mich von dem alten trenne, das nicht mehr in mein Leben passt, habe ich wieder Platz für neue Verhaltensweisen und neues Wissen.

    So ist es sehr sinnvoll, wenn ich von Zeit zu Zeit immer mal wieder meine alten Glaubenssätze und Verhaltensweisen ansehe und prüfe, ob diese für mich noch zeitgemäß sind. Ist dies nicht der Fall, darf ich mich getrost davon trennen.

    Es gibt auf der Welt so viele schöne und neue Themen und Kenntnisse, mit denen ich mich befassen darf und die ich auch, wenn sie mir gefallen, in mein Seelenhaus aufnehmen kann.

    Liebe Grüße

    David